Wilhelm Löhes Nachruf auf seine Mutter

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Der Webmaster als Urur....urenkel von Maria Barbara Löhe
 empfindet diesen Nachruf
wegen seiner tiefen Frömmigkeit und seinem großen Gottvertrauen
als kulturgeschichtlich sehr aufschlussreich
und gibt dieses Zeitdokument deshalb hier wieder.
 

Nachruf
auf
Maria Barbara Löhe , geborene Walthelm,
12.5.1770 – 6.7.1853.
verfaßt von ihrem Sohn Wilhelm Löhe, Pfarrer in Neuendettelsau

übertragen aus der handschriftlichen Aufzeichnung von Wilhelm Löhe
von ihrem Ururur-Enkel Wilhelm Streng # 1221 im Jahr 1986,
siehe Linie: Streng - Poppenweiler.

Kursive Texte: Anmerkungen von Wilhelm Streng #1221.
Wilhelm Löhe hat diesen Nachruf sicherlich nur für den engsten Familienkreis geschrieben. Es ist mir nicht bekannt, wo sich das Original befindet. Meine Umschrift fußt auf einer Abschrift aus dem Nachlaß von Karoline Fronmüller (1836-1924, # 27 auf Seite „Vorfahren Fronmüller – Löhe“ ).
Rechtschreibung und Zeichensetzung wurden, soweit möglich, den heutigen Regeln angepaßt. Die Bemerkungen in Klammern stammen von mir,
Wilhelm Streng.

 

Lebenslauf
der lieben seligen Großmutter
von ihrem Sohn Wilhelm Löhe

Meine innig geliebte Mutter, Frau Maria Barbara Löhe, ist zu Fürth geboren am 12.Mai 1770 und ohne Zweifel alsbald durch die heilige Taufe dem HERRN und Seiner Kirche verbunden. Ihr Vater war Herr Adam Christoph Walthelm, Handelsmann und zweimal weisungsführender Bürgermeister, dann Websyndicus und Schuladministrator. Ihre Mutter war Frau Maria Katharina, eine geborene Göllinging ( =urkundlich : Golling) von Fürth. Ihre Taufpatin war die von ihr bis ins hohe Alter hochgeehrte Bierbrauereibesitzerin in Fürth, Frau Maria Barbara Gebhardt. Gott hatte ihren Eltern 13 Kinder geschenkt, von denen meine liebe Mutter die letzte Tochter, das 11.Kind war. Mein Großvater war ein Thüringer und in Fürth ein Fremdling, der Sohn einer vortrefflichen Mutter (=Anna Maria Bauer 1704-1760). Er hatte sich, ein armer Jüngling, als Drechslergeselle auf die Wanderschaft begeben, und war über Auerbach nach Fürth gekommen; dort lernte er die einzige Tochter einer Glaserfamilie (=Golling) kennen, gewann ihr und der frommen Eltern Herz, und verband sich mit ihr zu einer 29jährigen glücklichen Ehe. Er verließ die Glaserei, und sein Detail-Handel dehnte sich unter Gottes Segen zu einer Bedeutung aus, von welcher man gegenwärtig (=Wilhelm Löhe schrieb diesen Lebenslauf Juli 1853) in Fürth, wo fast jedes dritte Haus ein Kramladen ist, keinen Begriff mehr hat. Der Fremdling wurde einer der ersten Männer in Fürth, von dessen redlichem und frommem Sinn und Wandel Zeugnisse genug vorhanden sind. Und Maria Katharina Gölling (=Golling) wurde ein Trost der Armen und Kranken, eine fleißige Wohltäterin, welcher bei einer gewaltigen Last des Haushalts und des Geschäfts dennoch die Zeit zum frommen Tun nicht mangelte. Unter solchen Eltern verlebte meine herzliebe Mutter ihre Jugend. Ihr Lehrer und Seelsorger war der von ihr in den Tod hinein innig geliebte und verehrte Dr. Theodor Fronmüller (siehe Seite „ Vorfahren: Fronmüller – Löhe“), ein Schüler Gellerts, an dem auch ihr lieber Vater mit Liebe und Verehrung hing. Der legte neben den frommen Eltern den Grund ihrer ungeheuchelten Religiosität.

Als meine liebe Mutter 12 Jahre alt war, am 7.Oktober 1782, starb ihr die fromme Mutter. 2 Jahre 10 Monate lebte der teure Vater im Witwerstande, dann verheiratete er sich zum zweiten Male mit Anna Barbara Amonin, einer frommen Müllerstochter von Petersgemünd, mit welcher er am 22.August 1785 getraut wurde. Diese Ehe dauerte nur 9 Monate und 4 Tage; am 28.Mai 1786, an einem Sonntag, nachts zwischen 11 bis 12 Uhr, starb der edle Mann an einem Gallenfieber. Er hatte heiße Todesleiden, aber Dr. Fronmüller dankte am Grabe insbesondere für die reichen Tröstungen, die ihm der HERR unter dem Kampfe seiner Leiden aus Seinem Worte hatte zufließen lassen. Das sind die Worte Fronmüllers, welcher ihm die Leichenpredigt über den Spruch hielt : Das Gedächtnis des Gerechten bleibt ein Segen (=Spr 10, 7 ).

Nun war meine liebe Mutter eine Jungfrau von 16 Jahren, eine vater- und mutterlose Waise. Alle Verhältnisse änderten sich. Die Stiefmutter, welche nach dem Tode ihres Eheherrn eine noch lebende (=vom Zeitpunkt des Schreibers aus gesehen) Tochter Helene, verh. Dräsel, geboren hatte, verheiratete sich anderweit, und das väterliche Haus und Geschäft kam an die ältere Schwester Maria Klara, geb. den 25.November 1765. Diese heiratete einen Fürther Jüngling Johannes Löhe, dem sie aber bereits in ihrem ersten Wochenbett starb. Der verwitwete Kaufmann Johannes Löhe heiratete meine herzliebe Mutter, die damals 19jährige Maria Barbara Walthelm, welche hiermit ihr eheliches Leben begann.

Mein teurer Vater, an Talent und Gemüt ein Nachfolger meines Großvaters, kam empor wie er, trat in die Ämter ein, welche der Großvater verwaltet hatte, und war das Bild eines starken und zugleich grundgütigen Mannes. Meine Mutter gebar ihm in einem etwa 27jährigen Ehestande 11 Kinder, stand dem großen Haushalt und an der Seite des Vaters (=ihres Mannes) dem Geschäft vor, und hatte in ihrem Ehestande viel Segen und Gnade, aber auch viel, ja recht viel Kreuz und Leiden. Die Summe ihrer Leiden wurde voll, als im Jahre 1816, im Herbst, mein teurer Vater (=ihr Ehemann), der zuvor von Krankheit nichts wußte, nach mehrmonatlichen Leiden und schweren Kämpfen aus der Zeit ging. Nun war sie mit ihren unmündigen Kindern - 4 Töchter und 2 Söhne, die andern waren früh gestorben - allein, und trug von da an allein die Last des Haushalts und Geschäfts ohne fremde Hilfe als die, welche ihr ihre Kinder bieten konnten. Der HERR aber war mit ihr in ihrer Witwenschaft, und all ihr Tun gelang. Zwar ihre älteste Tochter Anna, eine Jungfrau voll Gabe, Kraft und Tüchtigkeit, aber immer furchtbarer werdenden epileptischen Anfällen ausgesetzte Tochter, starb 5 Jahre nach dem Vater dahin, aber mit ihrem herrlichen, seligen Tode schloß eine Reihe unendlicher Leiden, welchen mit ihr ihre Kinder ausgesetzt waren. Dagegen wurden die anderen Töchter an geachtete Männer verheiratet, ein Sohn trat, von Gottes Barmherzigkeit geleitet, in das schönste aller Ämter, das ihre Seele liebte, ein, und der Jüngste bildete sich zur Kaufmannschaft aus und übernahm später das väterliche Geschäft. Beide Söhne traten auch in die Ehe ein - und eine zahlreiche Nachkommenschaft blühte zur Seite meiner Mutter empor. Und nicht nur Enkel erlebte sie - sie konnte Enkel und Enkelinnen zum Traualtar führen und Urenkel zur Heiligen Taufe begleiten. Ein so großes Glück gibt Gott den Seinen nicht ohne kräftiges Gegengewicht von Kreuz und Leiden. Zwei edle Töchter, Mütter zahlreicher Familien gingen ihr in ihrem hohen Alter vor aus der Zeit, und zwar unter sehr ergreifenden Umständen, und auch das gehört mit zu den Bitterkeiten ihres Lebens, daß die von ihr so treu geliebte Pfarrerin dahier, die Ehegattin ihres ältesten Sohnes (=Wilhelm Löhe, der Verfasser dieser Biografhie) im blühenden Alter starb. Und wer kann all den Jammer erzählen, welchen sie an den zahlreichen Krankenbetten ihrer großen Familie und in so vielen unausbleiblichen Nöten und Gefahren ihrer Teuren durchzumachen hatte !

Am 24.Mai (=es wird kein Jahr genannt, aber nach dem Zusammenhang muß es sich um das Jahr 1853 handeln) ging sie mit mir, ihrem Sohn, nach ihrer Gewohnheit zu einem Sommeraufenthalt, und zwar diesmal gerade mit besonderer Lust und Freudigkeit. Zwar war sie durch das heurige nasse Wetter vielfach verhindert, den schönen Sommer im Freien zu genießen, aber sie war doch gesund und recht wohl aussehend. Am 27.Juni aber, da wir den Geburtstag der heimgegangenen seligen Pfarrerin (=der Schreiber spricht hier von seiner eigenen Frau) feierten, bemerkte sie am Nachmittag mit ahnungsvollem Ernst, ihre Augen seien seit einer Stunde so schwach, sie sehe fast nichts. Doch das verging; am andern Tag aber klagte sie über Kopfschmerz, welchen sie litt, ging aber doch an meinem Arm am Abend recht gern im blühenden Gärtchen und schönen Lüften auf und ab.  Sie schlief vortrefflich, aber als sie am Morgen darauf, früh 8 Uhr, sich anzog, um in die Kirche zu gehen, da wurde ihr wunderlich zumute, und ihr Gesicht sah feurig aus, doch schien es vorüber zu gehen, und ich hoffte, sie nach der Betstunde wieder wohl zu finden. Aber nein ! Ein Blutschlag hatte sie während des Gottesdienstes gerührt, und da lag sie todesnah, ein Beispiel unserer Hinfälligkeit. Doch noch einmal half der HERR ! Sie erwachte, sie freute sich, - einige Tage außerordentlicher Freudigkeit und Freundlichkeit traten ein - und am Sonnabend morgens stand sie auf, um am Sonntag im Kreis ihrer hiesigen Angehörigen zu sein. Es war ihr wohl - nur daß sie über einen leiblichen Mangel klagte (=Stuhlgang), den man nicht allzu hoch anschlug. Da rührte am Samstag Nachmittag ein nur kurzer Nervenschlag ihre Rechte , ihr Arm und Fuß und Zunge wurden gelähmt und unaussprechlich heiß. Leiden kamen nun, abwechselnd mit Stunden und Minuten der Erleichterung, über sie. Solche Tage und Nächte hatte sie in 83 Jahren nicht erlebt, und ach, sie endeten am verwichenen Mittwoch, den 6.Juli (=diese Bemerkung läßt uns die Abfassung dieser Biographie auf etwa den 10.Juli 1853 datieren) nachmittags , 8 Minuten nach 3/4 4 Uhr mit ihrem Tode, nachdem sie 83 Jahre 1 Monat 24 Tage in dieser Welt gelebt hatte.

Dieser äußerliche Abriß eines ebenso einfachen als reich bewegten Lebens ist nun aber nicht das, was wir hier wissen wollen; sondern es ist eine uralte und ehrwürdige und heilsame Sitte der Christenheit, den Lebenslauf der Entschlafenen so anzuschauen, daß man daraus Beispiele des Glaubens und der Heiligung entnehmen kann; und Ursachen, die Gnade und Barmherzigkeit des zu preisen. So habe ich’s immer gehalten und halte es auch hier und glaube, ohne von der Wahrheit zu weichen, auf unsere Vollendete zu weisen und sagen zu dürfen : Schauet ihr Ende an und folget ihrem Glauben nach! Ich glaube, ihren ganzen Wandel unter Christen nicht besser bezeichnen zu können, als mit den Worten, mit welchen der selige Dr. Fronmüller den geistlichen Lebenslauf ihres Vaters zusammenfaßte; es sind die : "Er erkannte, bereute, beseufzte seine Sünden und hielt sich im Glauben an die Gerechtigkeit JESU Christi, und an die verordneten Heilsmittel, besonders durch den würdigen Gebrauch des Heiligen Abendmahls, damit durch denselben die Gnade Gottes und erhaltene Vergebung der Sünden möchte versiegelt werden". Ganz so habe ich sie erkannt.

Sie hatte Schwachheiten und Gebrechen wie alle Menschen; aber ich habe sie oft in ihrem Leben sich geistlich in den Staub beugen sehen, vor Gott dem Heiligen. Es ist nicht die Übertreibung kindlicher Liebe, sondern das wahrhaftige Zeugnis eines Dieners Christi, wenn ich sage: Sie hat mit tiefer Ehrfurcht vor dem HERRN die heilige  Absolution gesucht und sie mit inniger Begier mit viel Bewegung empfangen unter den Ergüssen dankbarer Tränen. Es schien mir ihr letzter öffentlicher Beichtgang ein sehr feierlicher gewesen zu sein. Und mit welcher Inbrunst der Seele, mit welcher Andacht hat sie am vorigen Sonntag die Absolution empfangen! Ja, als sie nicht mehr reden konnte und ihre Zunge wie eine ausgetrocknete Scherbe im Mund lag, da zog sie mein Haupt zu ihrem Munde und lispelte vernehmlich : "Wird mir doch Jesus auch alle meine Sünde vergeben haben ?“. Mein ernstes "Ja", meine amtliche Versicherung machte sie zufrieden. Ich sah ihr stilles Auge und hörte ein leises vergnügtes "So“ . So nah lag ihr das Elend ihrer Sünde - und man darf sagen, das war ihr Zeichen bis zum letzten Hauch: Gefühle der Unmündigkeit, Kleinheit vor Gott. Von diesem Gefühl befürchtete ich und bemerkte ihre ernstesten Anfechtungen, und meine seelsorgende Behandlung ging drum schnurstracks darauf hin, den Feind zu bekämpfen und das Gefühl der Sünden im Glauben zu verklären zur heiligen Demut eines von Gott begnadigten Christen; und ich hoffe, der HERR hat's getan: Ihr Glaube von Jugend auf in ihr gepflanzt, später von einer ungläubigen Zeit angefochten, aber bei Eintritt der gnädigen Zeit der Erweckung hernach, welche Gott unserem Vaterlande gab, wieder auferstanden - ging stets auf Jesum hin, den Sohn Gottes und Mariens. Sein Leben, Sein Sterben, Seine Auferstehung, Sein Leben in Ewigkeit, Seine Macht und Herrlichkeit, waren ihr lebenslänglich Gegenstände der tiefsten Verehrung und immerwährenden Betrachtung. Wie ihre Eltern ihr, so ist sie ihren Kindern mit dem gesegneten Beispiel der Anbetung voraus gegangen und hat den Namen des HERRN nicht bloß geglaubt, sondern ihn auch bei jeder Gelegenheit bekannt und ihre Kinder in allen Fällen, wozu sie in Not, Krankheit und Sterben kamen, mit gesegnetem und holdseligem Mund vermahnt, im Glauben auszuharren und das Vertrauen nicht wegzuwerfen, welches eine große Belohnung hat. Ihre Zunge war gelähmt in ihrer letzten Krankheit, sie konnte nicht reden : Ihr Glaube wurde durch heiße Anfechtung geprüft, aber es war in dieser schweren Zeit, daß sie mein Ohr zu ihrem Munde zog, und ich vernehmlich hörte:  „Gelobt sei Jesus Christus !“ -  ich aber dachte: Wie groß und heilig ist der Name dieses Menschensohns von Bethlehem, daß die verstummten Herzen und Lippen Ihn preisen ! - Sie konnte nicht reden, aber ihr schönes sprechendes Auge predigte vom Namen des HERRN ! Als es am letzten Sonntag zur Kirche läutete, da erinnerte sie sich an die gesunden Tage, wo sie wallen (=Wallfahrt) ging zum Hause des HERRN, ihr Herz wurde weit, Verklärung lag auf dem tränenbetauten Antlitz, mit einer mir unvergeßlichen Miene, mit Blicken, die mehr als tausend Reden redeten, entließ sie mich, der ich heut von ihrem Lager ging : Ich bliebe im Geiste bei ihr, sagte ich; sie gehe im Geiste mit mir; "der HERR Jesus ist bei uns beiden" - ich will Ihm auch in ihrem Namen das Gloria anstimmen. Da war sie vergnügt. Ebenso ermahnte sie mit unaussprechlichen Blicken ihre Enkel in ihrer Abschiedsstunde; und ihre Kinder. Einer nach dem andern trat vor sie und empfing die verdienten feierlichen innigen Blicke, die von Vermahnung zu Gott und Seinem Heiligen Worte trieften. Ihre eigentliche Kampfeszeit (=Todeskampf) begann am Nachmittag des Dienstags, und unmittelbar vor dieser ernsten, schweren Zeit, tat ihr Gott, wie geschrieben steht : "Erquicke mich, ehe ich hinfahre“. - Da war die letzte Zeit feierlichen Vermahnens und der gegenseitigen Freude in dem HERRN.

Und wie das mehr ist, daß sie im Bekenntnis wahren Glaubens lebte, so war sie auch die treueste Anhängerin und Liebhaberin der Glaubensmittel. Die Gemeinde Fürth ist die größte im Königreich, aber ist wohl in dieser großen Gemein noch eine Christenseele, welche – und das je länger je lieber - das Wort Gottes mit solchem Eifer suchte, so regelmäßig, so wachsam, und, was herauszuheben ist, so vorbereitet suchte? Sie ging bereitet zumGotteshaus, das Vorläuten des Gottesdienstes hieß bei ihr: "Wach auf, meine Ehre, wach auf, Psalter und Harfe !" Der Höhepunkt im ganzen Leben war ihr aber der Genuß des Heiligen Sakramentes. Wer sah die greise Jüngerin gesammelt und voll Ehrfurcht zum Altar gehen, ohne gerührt bekennen zu müssen : Das ist eine bereitete Seele ? Ihr letzter Abendmahlsgang war ihr ein seliger Feiergang - und der Genuß desselben auf dem Sterbebette ein Anfang der Verklärung. Sie nahm den Kelch des Heils, wie wenn sie hätte sagen wollen : "Ich will den heilsamen Kelch nehmen und den Namen des HERRN predigen !“ Sie hielt ihn selbst in ihrer Hand und zog ihn an sich. - Der HERR hatte nicht bloß ihre Sprachwerkzeuge, sondern auch die des Schlingens gelähmt; sie lebte seit vorigem Sonnabend ohne alle Nahrung und Erquickung, außer daß ihr der HERR in Gnaden verlieh, einige Tropfen Wasser oder Saft von Früchten zu schlucken. Eine solche Erleichterung war bei dem sakramentlichen Genuß nicht vorhanden, sie musste fürchten, beim Schlingen des Weines sich heftige schmerzliche Aufregungen zu bereiten und hatte schon Warnung durch Beispiele erhalten, aber das achtete sie nicht, den Schluck Wein, mit welchem sie das Blut Christi gewann, schlürfte sie, 6 bis 7 Male absetzend, um ja die Gewißheit völligen Empfangs zu haben. Dabei leuchteten ihre Augen vom Morgenrot des ewigen Lebens und gewisser (=in Gewißheit) Schönheit.

Die Selige hat eigenhändige Anordnungen über ihre Leiche (=Beerdigung) hinterlassen. Diese schließen mit folgenden Worten: "Das habe ich auch meinen Kindern geschrieben, wenn mich der HERR mit einem Schlagfluß sollte heimsuchen, und ich nimmer reden könnte ! Und dann denn, wer kann sie fassen, die Wonne, die mein Herz erfüllt, wenn kein Leiden mich mehr kränken, Licht Gottes mir aus Christo quillt. 0h dann, dann ist mein Geist genesen, und ich werde bei dem HERRN sein allezeit; ich freue mich recht darauf und auch ihr, meine Kinder, werden ein freudiges Halleluja anstimmen, denn ich glaube fest darauf, daß mich der HERR nicht verstößt, sondern zu sich nimmt. Amen durch Jesum Christum, Seinen Sohn !“ - Diese feierliche, fröhliche Stimmung dieser Worte lag bei ihrem letzten Abendmahlsgenuß auf ihrem Angesicht. Bei solcher religiösen Genießung konnte es auch an Früchten des Geistes nicht fehlen. Ein durchaus würdiger Wandel, ein gestrenges Halten auf Zucht und Sitte, auf Haus- und persönliche Andacht, Nüchternheit, Mäßigkeit, Ordnung, Stille, Schweigsamkeit, Mildigkeit und Gütigkeit waren an ihr gewiß jedem erkennbar, der näher mit ihr umging  - und es ist das um so mehr anzuerkennen, als sie keinen schwachen, sondern starken Charakter hatte, einen ungemeinen Scharfblick im Beurteilen fremder und eigener Kinder. Eine besondere Gabe und Gnad.e hatte sie aber im Ermahnen und Trösten. Den Spruch : "Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“, habe ich aus ihren Tröstungen verstehen lernen. Überhaupt fruchtete sie insonderheit als Mutter. Sie wußte, dass sie Mutter war und deshalb eine hohe Majestät besaß. Wie sie bis in ihr höchstes Alter vor ihrem Vater und Mutter sich neigte, so oft sie ihrer gedachte, so forderte sie ein gleiches von ihren Kindern; nicht im Gefühl, sie fand sich gedemütigt durch die Liebe und Ehrerbietung ihrer Kinder - sie hätte dieselbe gewiß nicht angenommen, wenn nicht das Bewußtsein ihrer Mutterschaft sie dahin erhoben hätte, sich kindlich ehren zu lassen, wie sie ihre Eltern ehrte, und damit den Segen des 4.Gebots vererbte ganz offenbar. Allein die Würde der Mutterschaft war weitaus nicht mächtig genug, die Güte, die Liebe, die Hinneigung, die Aufopferung ihres mütterlichen Herzens zu übertreffen. Gewiß keine Gluckhenne hat je um ihre Küchlein so gegluckt als meine Mutter um ihre Kinder. Ihre mütterliche Liebe machte sie nicht bloß sorgen-, sondern sogar ahnungsvoll. Es sind Beispiele vorhanden, daß sie auf 32 Stunden hier schmerzvoll ahnte, daß einem ihrer Kinder groß Leid geschehen. Ihre mütterliche Liebe wurde Ahnung und wie unzählig öfter Gebet. Wann hat sie mein, der ich am meisten und häufigsten räumlich von ihr getrennt war, vergessen? An welchem Morgen und Abend nicht für mich gebetet ? Aber was will ich hier sagen und rühmen - der große Gott im Himmel hat kein höheres Bild der Liebe geschaffen als die Mutterliebe, und meine Mutter war ohne Zweifel ein leuchtend Beispiel dieser hohen Liebe. Vor Gott und seinen heiligen Engeln, jetzt und in der Stunde meines Abschieds (=Todes), in meinem Namen und im Namen meiner lebenden und heimgegangenen Geschwister, gebe ich meiner Mutter dies Zeugnis und besiegle es durch die Wahrhaftigkeit eines Dieners Christi (Wilhelm Löhe war Pfarrer), daß die Liebe dieser Mutter eine nie versiegende Flamme war - und noch ist.
"Noch ist", sage ich, denn sie ist nicht tot, sondern sie lebt. Der HERR ist ihr Gott, und Er ist kein Gott der Toten sondern der Lebendigen. Die Todesschmerzen meiner Mutter waren so groß, daß sie mir bisweilen zur Anfechtung gedeihen wollten. Vor dem Auge der Sterbenden hing das Bild des Dornengekrönten; wie oft richtete ich mein Auge dorthin und sagte : "Ja, Du bist ein großer König, denn Du kannst es sehen wie Deine Heiligen aller Tage - denn meine Mutter ist dieser eine von Millionen, die also leiden und mit unaussprechlichem Schmerz überschüttet werden. Seit 1800 Jahren kannst Du das fügen und weichst von Deinen Wegen nicht, wenn wir auch noch so schreien. Du bist ein Herz, das alles das in einem Maße erfahren hat, von dem wir nichts verstehen noch begreifen. Du bist das mitleidigste Herz geworden durch eignes Leid, was ist dagegen mein kindliches Mitleid – und doch kannst Du das alles so fügen und zusehen, das Feuer sehen und schüren, wodurch Deine Heiligen geläutert werden. Was bist Du für ein Menschensohn und großer König!“  -- So hab ich oft gesagt - aber St. Johannes schreibt : "Selig sind die Toten, die in dem HERRN sterben“ , und meine Mutter schreibt in ihrer Leichenverordnung : Mein Leichentext ist: "Selig sind die Toten, die in dem HERRN sterben !“  Und das ist gewißlich wahr.

„Selig sind die Toten, die in dem HERRN sterben !“ Im HERRN sterben heißt nicht schmerzlos sterben, ohne Anfechtung ungeprüft, schön sanft und leise sterben: im Gegenteil, ein Sterben ohne Todeskampf ist gefährlich Ding (??) - wo kein Kampf ist - wie leicht kann da auch kein Sieg sein ! Denn im Kampf ist der HERR mit den Seinen ! Denn da ist Er in den Schwachen mächtig, da löst Er die Seele von Erdendingen, von Kleinigkeiten, die ihr ankleben, von Flecken und Runzeln, und macht sie auserwählt - und wenn Er sie auserwählt gemacht hat und ihr Seinen schönen Jesus-Namen unter heißen Schmerzen eingebrannt hat, dann kommt Er und gibt ein selig Ende, einen seligen Anfang einer unaufhörlichen Herrlichkeit. Im HERRN leben, das heißt im Glauben und Anrufung Seines Namens, in Seiner Liebe und Hoffnung, im Gebrauch Seiner Gnadenmittel leben und im HERRN sterben, ist gleichermaßen zu nehmen, und wer darunter Nebensachen, sanftes Fühlen u.dgl. versteht, der verwechselt eben das Wesen und Unwesentliche. "Im HERRN" ist gewiß nichts anderes, als unter Anrufung des Jesunamens, im Glauben an das allerhöchste Verdienst an die Vergebung der Sünden, im Genuß des Leibes und Blutes Christi sterben. - So starb meine Mutter.

Das Gebet und die Anrufung verstummten nicht, so lange der Odem (=Atem) aus- und einging. Wie sie selbst sich ohne Zweifel zitternd und zagend vor den Pforten des HERRN bewegte und der Ruf : "Du Sohn Davids erbarme Dich meiner!“ in ihrem Herzen lebte, so wurde sie von den Ihrigen unter großem Geschrei und Tränen Gott geopfert. (??) Als es sichtlich war, daß die Hand des HERRN voll Ernst und ewigen Erbarmens an die Fügung des Leibes und der Seele rührte um sie zu lösen, da begannen die Kinder und Enkel zu singen : „0h Lamm Gottes unschuldig, etc.“ , und als das Leben indes fast hineilte, da fingen wir an, jene alten, unaussprechlich schönen Gebete und Einsegnungen zu sprechen.

Unter denselben ging sie dahin. -
"Selig sind die Toten, die im HERRN sterben".
Wie selig sind die Toten, die im HERRN sterben!
- Verweisungen auf die Verheißungen der Seligen -.
Aber nur selig sind die Toten, die im HERRN
sterben.
HERR, mache uns selig!
Amen !